2019-04-29

Biodiversität – ein dehnbarer Begriff

Markus Ruch aus dem schaffhausischen Neunkirch hat seinen Kunden einen spannenden Brief geschrieben:
«Wieder ist ein von Extremen geprägtes Jahr verstrichen. Im April war der Austrieb bereits so weit, wie er es normalerweise erst im Mai ist. In der Mitte des Septembers hatten wir unsere gesamte Ernte eingefahren, weil die Zuckerwerte durch die Decke zu steigen und die Säure komplett zu verdunsten drohten. Hier liegt eine Verschiebung des Reifezeitpunkts von sage und schreibe fünf Wochen vor! Wir Winzer spüren es hautnah: Die Klimaerwärmung ist keine zukünftige Abstraktion, ihre Auswirkungen zeigen sich hier und jetzt.

Durch den früheren Vegetationsbeginn reagieren die Reben empfindlicher auf Frostschäden. Wenn das Thermometer wie in diesem Jahr schon im Februar 18 Grad anzeigt, können die Reben plötzlich einige Wochen früher austreiben. Dann reichen ein zelte Frostnächte, wie sie imi April oder Mai vorkommen können aus, um einen verheerenden Schaden anzurichten. In den Jahren 2016 und 2017 ist das geschehen und es ist zu befürchten, dass die nicht die letzen Male gewesen sein werden.

Dies legt ein zentrales Problem im Weinbau offen: Er ist zu einseitig. Heutzutage verkünden zwar alle Winzer grossmundig, wie hoch die Pflanzenvielfalt in ihren Rebbergen ist und natürlich versuche auch ich konstant, meinen Betrieb in dieser Hinsicht zu verbessern. Doch ich  blicke von der Halde über den Klettgau in ein eintöniges, hochintensiv bewirtschaftetes Rebenmesser. Die Akteure  in dieser Landschaft betreiben ein Hochrisikogeschäft. Eine Frostnacht im Frühling oder ein Hagelzug im Spätsommer reichen unter Umständen aus, einem so spezialisierten Unternehmen die Existenzgrundlage zu entziehen. Deshalb steht für mich fest: Biodiversität darf nicht nur zwischen den Rebzeilen, sondern sollte auch in der Landschaft selbst stattfinden.

Dieses Thema beschäftigt mich, seit die Schweiz im Jahre 2014 von einer pandemischen Ausbreitung der Kirschessigfliege befallen worden ist. In der gleichen Zeit kam ich das erste mal mit Cidre in Berührung. Mein Freund Beni Oswald, der mir jeweils im Herbst bei der Ernte half, hatte das Getränk in einem Weinbaupraktium in Australien kennengelernt. Bald gelang es ihm, mich davon zu begeistern. Mit nur wenig Alkohol, dafür aber einer prickelnden Perlage versehen, kommen manche Cidres so spielerisch beschwingt daher, wie es kaum ein Wein vermag. Infolge gesteigerter Aufmerksamkeit auf Apfelbäume begann ich zu realisieren, wie organisch sie sich in die hiesige Landschaft einfügen und wie breit verankert der Obstbau hier einmal gewesen sein muss. Die Hochstammbäume in den Gärten der Klettgauer Dörfer deuten nach wie vor auf die gigantischen Streuobstgürtel hin, welche die bäuerischen Siedlungen früher umgaben. Sie brachten heute fast vergessene Sorten wie den Hallauer Maien-, oder den Löhningner Rosenapfel hervor.

So habe ich mich intensiv mit Obstbau  und Cidre auseinandergesetzt. Ich habe mich gefragt, wie diese den Weinbau ergänzen, um mit ihm zusammen ein ganzheitliches agrokulturelles System bilden zu können. Zahllose Gespräche und ein beträchtlicher Berg leerer Cidreflaschen später ist es endlich so weit: Voller Freude darf ich Sie auf einen entscheidenden Schritt in der Geschichte meines Betriebes aufmerksam machen: Die Gründung der Mosterei Oswald + Ruch und die ersten 5000 Flaschen Cidre, die wir letztes Jahr im neu gemieteten «Alten Wachposten» in Neunkirch produzieren konnten.

Von der Erweiterung meines Betriebes, die sich zusammen mit Beni Oswald vollziehen wird, verspreche ich mir einiges. Bein Schaffen soll vielfältiger und damit weniger störungsanfällig werden, ökologische und betrieblich Synergien sollen entstehen, und ein verloren zu gehen drohendes Kulturgut soll wieder wachgeküsst und bewahrt werden. Im Zentrum aber steht für mich heute wie vor zehn Jahren dieselbe einfache, aber grundlegende Frage: Wie lässt sich die mich umgebende Region im Glas abbilden?  Mit der Erweiterung meines Fokus auf Cidre, werde ich mich noch differenzierter mit dem hiesigen Terroir auseinandersetzen, um in Zukunft eine noch genauere, solidere und nicht minder wohlschmeckende Antwort auf diese Frage geben zu können.»

 

 


 

 

Mit der Erweiterung des Weinbaus um die Mosterie Oswals + Ruch nehmen Markus Ruch und Benjamin Oswald die Pflege und Ernte der zahlriechen vernachlässigten Apfel- und Birnbäume ihrer Umgebung wieder auf. Damit leisten sie einen wichtigen Beitrag an die Biodiversität und den Erhalt alter Obstsoerten im Klettgau. Gleichzeitig modernisieren sie den Weinbaubetrieb und passen ihn an die mit der Klimaerwärmung kommenden ökonomischen Herausforderungen an.

Damit sie dieses Projekt zum Erfolg führen können, sind sie auf Hilfe angewiesen. Sie müssen eine Obstpresse kaufen, um unabhängig und präzise pressen zu können. Um für kühle, langsame Gärungen und dmait raffinierte Cidres zu sorgen brauchen sie eine Kühlanlage. Und sie wollen einen Obstgarten und eine Baumschule mit besonders seltenen Sorten anlegen, um wieder zu der Sortenvielfalt zu gelangen, die es im Klettgau einmal gab.

Deshalb starten sie ein Crowdfunding. «Mit Ihrer Hilfe gelingt es uns 40’000 Franken aufzutreiben und unseren Betrieb in eine gesunde und nachhaltige Zukunft zu führen», schreiben Oswald und Ruch. «Alle nötigen Informationen und wie Sie selbst dabei profitieren können finden Sie auf www.wemakeit.com/projects/mosterei-oswald-ruch


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Weltweite Notlage bezüglich Biodiversität

Mit einer deutlichen Mahnung begann die Weltartenschutz-Konferenz in Paris. Jahrelang haben Fachleute Tausende Quellen für einen Bericht zur Artenvielfalt ausgewertet, nun diskutieren Delegierte aus aller Welt darüber. Eines scheint aber schon jetzt klar: Es muss schnell gehandelt werden.

Erstmals seit 2005 prüft der Weltbiodiversitätsrat an der IPBES-Sitzung in Paris die weltweite Lage der Biodiversität. (Bild zVg/ji)

Der Präsident des Weltbiodiversitätsrats warnt vor einem «schnellen und historischen» Verlust der Arten. Die Zerstörung der Artenvielfalt sei ebenso schwerwiegend wie der Klimawandel, sagte Robert Watson zum Auftakt der Weltkonferenz zur Artenvielfalt am Montag in Paris gemäss der Nachrichtenagentur sda. Beide müssten gemeinsam bekämpft werden.

«Der Verlust der Artenvielfalt ist genau wie der von Menschen verursachte Klimawandel nicht nur ein ökologisches Problem», so Watson weiter. Er sei ebenso ein wirtschaftliches, soziales, moralisches aber auch ethisches Thema. Alle Menschen müssten Verantwortung für ihr Handeln übernehmen.

Umfassender Öko-Check
Der Weltbiodiversitätsrat (IPBES), eine Organisation der Vereinten Nationen, debattiert in Paris mit Delegierten von mehr als 130 Ländern rund eine Woche über die Ergebnisse seines globalen Berichts zum Zustand der Natur. Erstmals seit 14 Jahren hatten Experten wieder einen globalen Öko-Check der Erde erstellt. In Paris geht es nun um eine Zusammenfassung des Reports, die eine Handlungsgrundlage vor allem für die Politik bieten soll. Sie soll am Montag, den 6. Mai, veröffentlicht werden.

Ziel ist es, einen weltweit akzeptierten gemeinsamen Sachstand zu Lage, Problemen und möglichen Lösungen zu schaffen - ähnlich den Papieren des Weltklimarats IPCC für den Klimawandel. Drei Jahre lang hatten rund 150 Experten aus 50 Ländern für den IPBES-Report das vorhandene Wissen zusammengetragen und analysiert. Dabei wurden rund 15’000 Quellen ausgewertet und auch die Erfahrungen der indigenen Bevölkerungen miteinbezogen.

Der Report lege nun die Grundlage für fundierte Massnahmen zum Schutz der Artenvielfalt, die Regierungen, der Finanzsektor und der öffentliche Sektor ergreifen können, so Watson. Die Zerstörung der Artenvielfalt könne nur durch schnelles Handel auf der ganzen Welt bekämpft werden. Der Bericht diene dafür als Handlungsgrundlage. «Wir müssen unseren Planeten wieder grossartig machen», sagte Watson («We Have to Make Our Planet Great Again»).

Kritischer Moment in der Geschichte
Audrey Azoulay, Generaldirektorin der Unesco, bezeichnete die Konferenz als «historisch». «Die Notlage bringt uns zusammen», so Azoulay. Man müsse nun zusammenarbeiten - vor allem mit Blick auf künftige Generationen. Nach dieser Konferenz könne niemand mehr sagen, dass er nicht gewusst hätte, wie dramatisch die Lage sei.

Der IPBES-Bericht sei das Ergebnis jahrelanger Arbeit und konfrontiere alle Beteiligten damit, was getan werden müsse. «Wir wissen, dass das ein kritischer Moment in der Menschheitsgeschichte ist.»

Der IBPES-Bericht werde zeigen, dass der Raubbau an der Natur zu Lande und im Wasser rapide voranschreitet, teilte Günter Mitlacher, Leiter Internationale Biodiversitätspolitik bei der Naturschutzorganisation WWF, mit. «Wir holzen zu viel Wald ab. Wir zerschneiden den Lebensraum von Pflanzen und Tieren mit Strassen, Schienen und Siedlungen. Wir planen Natur bei unserer Entwicklung nicht hinreichend mit ein», so Mitlacher. «Wir überbeanspruchen Luft, Boden und Wasser. Wir drehen am Thermostat der Erde. Wir plündern die Weltmeere und müllen sie zu mit Plastik. Wir wildern, überfischen, beuten alles aus.»

(Quelle: lid)