2016-10-26

Gläsertest: Wieviel Glas braucht Wein?

Gläser beeinflussen den Trinkgenuss. Moderne Weine kommen in kleinen Kelchen nicht zur Geltung. Auch die klassische Tulpenform in günstigster Ausführung ist nicht die beste Lösung. Weingenuss ist anders.

Die Kreativität im Glasdesign kennt keine Grenzen. Der nach oben sich öffnende Kelch des rechten Glases ist ein Klassiker. Doch daraus Wein zu geniessen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. (Bilder aus dem www)

Ganze 130 Gramm beträgt der Gewichtsunterschied zwischen dem leichtesten und dem schwersten der Weingläser, die eine kleine Gruppe von Weinexperten getestet hat. 130 Gramm sind eine Menge Glas, die beim Weingenuss ins Gewicht fallen. René Gabriel beispielsweise bietet sein «Gabriel-Glas» in zwei Varianten an: mundgeblasen mit einem durchschnittlichen Gewicht von 87 Gramm und maschinengefertigt mit 141 Gramm. Nebeneinander aufgestellt lassen sich auf den ersten Blick weder in der Form noch der Grösse Unterschiede feststellen. Wohl aber bei der Haptik. Das mundgeblasene Gabriel-Glas fühlt sich seidiger, weicher und somit edler an. Interessant sind die markanten Unterschiede bei der sensorischen Wahrnehmung. Im maschinell gefertigten Glas wirken Weiss- und Rotweine jünger, frischer und direkter aber auch rustikaler. Im mundgeblasenen Pendant hingegen präsentieren sich die Weine fruchtiger, eleganter und ausgewogener. Aus letzterem verkostet, punkten alle Weine mit einem bis eineinhalb Punkten mehr in der Bewertung auf der 20er-Skala.

«Die Glaswahl beeinflusst die Wahrnehmung im Gaumen stärker als in der Nase.»

Thomas Vaterlaus, Chefredaktor Vinum, Zürich

Sind mundgeblasene Gläser besser als maschinell gefertigte? Die Antwort auf diese Frage gibt ein Streifzug durch die Geschichte. Mit der Erfindung der Glasmacherpfeife im 1. Jahrhundert nach Christus erleben Trinkgefässe aus geblasenem Glas in der römischen Kaiserzeit einen ersten Aufschwung. Die Ursprünge der hauchdünnen, hochstieligen Trinkgläser aus reinstem Glas, wie wir sie heute kennen, reichen zurück ins Venedig des 16. Jahrhunderts. Der Mode folgend entstehen 200 Jahre später umfangreiche Trinkservice mit Gläsern für verschiedene Weine und Spirituosen. Allesamt sind sie reich verziert durch Schliff, Schnitt, farbigem Glas und bunter Malerei im Stil der Porzellandekoration. Erst der Jugendstil bringt für das Glas die Wende hin zur Moderne. Nach dem Zweiten Weltkrieg scheint es zunächst, als seien alle Bemühungen um das funktionsgerechte, kunstvoll gestaltete Weinglas vergeblich gewesen. Mitte der fünfziger Jahre prägt erneut der rustikale, diesmal skandinavische Glasstil mit schweren, üppig geschliffenen Gläsern den gedeckten Tisch.

Von Mund geblasene Gläser erhalten ihre regelämssige Form in Holzformen. Nach rund 100 Gläsern ist die Form ausgebrannt und muss durch eine neue erstezt werden. (Bild Zalto)

Maschinelle Produktion macht Weingläser massentauglich
1961 gelingt Zwiesel die vollautomatische Produktion von Kelchglas, das vor allem in der Gastronomie auf grosses Interesse stösst. Weingläser werden zur erschwinglichen Massenware. Elegante, dünnwandige Gläser können aber weiterhin nur Manufakturen herstellen, die traditionell von Mund blasen. Denn die Maschine braucht herstellungstechnisch eine gewisse Wandstärke. Diese zu reduzieren, ist die Aufgabe von Ingenieuren. Deren Ergebnis sind Kelche, wie die der Linie Veritas von Riedel: extrem fein, leicht und von mundgeblasenen Gläsern kaum zu unterscheiden. Ob mundgeblasen oder maschinengefertigt: Bei einem sehr feinen Mundrand ist das Trinkgefühl um einiges angenehmer und steigert intuitiv die Leistung der sensorischen Rezeptoren.

Universal-Gläser: Ein Glas für alle Arten von Wein. So wie René Gabriel dies mit seinem «Gabriel-Glas» (1. von links) proklamiert, gibt es mehrere Einzelfabrikate und sensorische Kuriositäten. Ein Beispiel ist das «VinOval» (2. von links). Je nachdem, von welcher Seite man es betrachtet, sieht es aus wie ein Burgunder- oder ein Bordeaux-Glas. Auch das dritte Glas «Edi the Nose» macht, je nachdem, wie es gehalten wird, andere Empfindungen erlebbar. Dazu kommen Gläser von Stölzle (3. von rechts), Chef & Sommelier (2. von rechts) oder Schott Zwiesel (ganz rechts), die in der Gastronomie häufig im Einsatz sind. Dieser Kategorie könnten Gläser aller Marken zugeordnet werden, wie die Namen Zalto «Universal» oder Mark Thomas «DB Allround» bezeugen. (Bilder: Vinum/Linda Pollari)

Ein Glas für jede Rebsorte
Ein weiterer Meilenstein legt Claus Riedel. 1973 präsentiert der Glasdesigner aus dem österreichischen Kufstein in Zusammenarbeit mit der italienischen Sommelier-Vereinigung die erste Gourmet-Glasserie der Welt. Claus Riedel fand heraus, dass Gläser, wie man sie bisher benutzte, völlig ungeeignet waren, edle Weine zur Geltung zu bringen, weil sie zu klein dimensioniert und die Kelche in Unkenntnis physiologischer Vorgänge beim Trinken gestaltet waren. Zum ersten Mal fliessen oenologische Prinzipien in die Gestaltung der Kelche ein. Während 1973 zehn Grössen präsentiert werden, umfasst die Linie Sommeliers heute 34 Modelle von Alsace bis Sauternes und von Cognac bis Whisky. Die von Riedel über Jahre erarbeiteten Erkenntnisse im Zusammenspiel von Glasform und Weingenuss sind heute Allgemeingut und Weinkenner stellen diese Anforderungen wie selbstverständlich an ein weingerechtes Glas. Das gilt für den Privathaushalt genauso wie für die Gastronomie.

26 Gläser unterschiedlicher Marken standen im Vinum-Profipanel zum Vergleich.

Neue Formen von neuen Marken
Riedels Mitbewerber auf dem Markt haben nicht geschlafen. Seit einigen Jahren lancieren neue Marken Gläser wie die bauchigen Kelche mit doppeltem Knick von Mark Thomas, die sich an den Winkeln der Erdachse orientierenden Denk’Art von Zalto oder die Vision von Ziehrer.
Wie einst Riedel, mischt zurzeit der Vision-Designer Silvio Nitzsche die Szene auf. «Es gibt bei meiner Serie keine Weiss- oder Rotweingläser», schreibt der Sommelier und Inhaber der Wein Kultur Bar in Dresden. «Ich unterscheide nach Themen- und Charaktergläsern.» Mit deren Namen erklärt er spielerisch einfach die Einsatzmöglichkeit. «Fresh» ist für junge, perlende Weine jeder Couleur gedacht. «Straight» definiert fruchtige und aromatisch präsente Weine. Für opulente, grosse Gewächse ist «Intense» die richtige Wahl und «Balanced» bringt vielschichtige und sensible Weine richtig zur Geltung. «Man greift intuitiv zu dem Glas, das die Geschmacksmomente des Weins, die man besonders betonen möchte, am besten präsentiert», erklärt Silvio Nitsche.

«Das richtige Glas kann einem Wein zu Höhenflügen verhelfen – oder ihn
zerstören.»

Paul Blume, Gastronom, Zürich

Somit stellen sich zwei weitere Fragen: Wieviel Glas baucht Wein und wie viele Gläser braucht ein Weinfreak zu seinem Glück? Die Frage nach der Anzahl Gläser ist subjektiv und nur schwer zu beantworten. «Das richtige Glas kann einem Wein zu Höhenflügen verhelfen – oder ihn zerstören. Hat der Sommelier im Restaurant die Möglichkeit mit mehreren Gläsern zu spielen, trägt er eine grosse Verantwortung gegenüber dem Gast wie auch dem Wein», sagte Paul Blume, Gastronom aus Zürich. «Meine Favoriten im Profipanel sind die Gläser von Mark Thomas. Total überrascht hat mich das Air Sense von Zwiesel 1872. Obwohl ich das Glas optisch abstossend finde, werde mir wohl eines kaufen müssen. Denn sensorisch ist dieses eine Offenbarung.» Zu Hause kommt Paul Blume mit zwei Gläsern aus: einem kleineren und einem gösseren. «Diese habe ich jedoch mit Bedacht gewählt», teilt er eine viel geäusserte Meinung.

Neutrale und aromatissche Weissweine präsentieren sich in kleineren Gläsern besser. Opulente, in Barriques ausgebaute Weissweine verlangen nach voluminösen Kelchen, in denen auch Rotwein serviert werden kann.

Von links: Mark Thomas DB, Zieher Vision, Riedel Veritas, Zalto, Spiegelau Willsberger Anniversary, Zwiesel 1872 Air Sense.

Wein braucht Raum und Zeit
Obwohl komplexer, ist die erste Frage nach wieviel Glas im Sinne von Raum, einfacher beantwortet. Die führenden Hersteller bieten kaum Weissweingläser unter 30 Zentiliter Fassungsvermögen an. Rotweingläser mit 40 bis 90 Zentiliter Inhalt sind die Norm.
Kleinere Gläser wie das Riesling-Glas aus der Linie Veritas von Riedel eignen sich für neutrale und aromatische Weissweine. Schmale Kelche betonen die Säure. Im Barrique gereifte Weissweine verlangen voluminöse Gläser. Das Bordeaux-Glas von Zalto hielt im Profipanel die Röstnoten dezent zurück und brachte die Frucht intensiv in den Vordergrund. Voluminöse Gläser sind auch ein Muss für kräftige, alkoholreiche Gewächse, egal ob weiss oder rot. In schlanken Kelchen steigt der Alkohol in die Nase und überdeckt die Frucht. Gläser der Linie Air Sense von Zwiesel 1872 vom schwedischen Designduo Carl Philipp Bernadotte (Prinz von Schweden) und Oscar Kylberg – die mit der Dekantierkugel im Kelch – öffnen junge Weine. Ein mineralischer Grüner Veltliner Reserve zeigt darin alle seine Facetten, während ein Chardonnay Barrique im gleichen Glas kredenzt von Holz erschlagen wird. Ganz anders verhält es sich mit der Linie Ziehrer Vision. Darin scheinen die Weine jung, direkt und kompakt.

Get in touch oder wie der Wein in den Gaumen fliesst
Genauso wichtig wie der Raum ist die Zeit, die man einem Wein zugesteht, um sich im Glas entfalten zu können. Die Form des optimalen Glases gibt dem Wein an seiner Oberfläche viel Raum zum Atmen. Idealerweise verjüngt sich der Kelch nach oben und konzentriert die Aromen. Die alles entscheidende Rolle spielt jedoch die Art und Weise, wie ein Wein über die Zunge in den Gaumen fliesst. Ruhig sollte sich dieser auf die Zungenspitze ergiessen. Stolpert und überschlägt sich der Wein oder muss er gar aus dem zu stark sich schliessenden Glas gesogen werden, schmeckt selbst der süsseste Wein garstig und bitter.

«Im Wein liegt die Wahrheit, besagt ein griechisches Sprichwort. Und eben auch im Glas.»

Markus Hans, Inhaber und Geschäftsführer von Berndorf Luzern und Victor-Meyer

«Als Importeur von Accessoires für die gehobene Tischkultur habe ich täglich mit Weingläsern zu tun. Doch nicht immer befasse ich mich derart intensiv mit der Materie. Der Vergleich mehrerer Marken, darunter auch solche, die wir nicht vertreten, bot viele positive und einige negative Überraschungen. Was im Privaten funktioniert, kann beim Einsatz in der Gastronomie jedoch zu Problemen im Handling führen», sagte Markus Hans, Inhaber und Geschäftsführer der Markus Hans Gruppe, zu der Berndorf Luzern und Victor-Meyer gehören.

Thomas Vaterlaus, Vinum-Chef-
redaktor, findet, dass viele der neuen Gläser überzeugen. «Doch mit ihrem spektakulären Design drängen sie sich zu sehr in den Vordergrund. Ich bevorzuge zurückhaltend schlichte Gläser, die ebenfalls hervorragend funktionieren, aber gleichzeitig auf subtile Weise die Bühne ganz dem Wein überlassen.» So oder so ist es wichtig, dass die Gläser zum Stil des Lokals passen und dass sie mit den angebotenen Weinen harmonieren. Ein 150 Franken teurer Wein kann nicht in einem «Stamperl», das 2.95 Franken kostet serviert werden.

Häufig ist die Pflege der Gläser ein Schwachpunkt
Ebenso wichtig wie die Wahl der Gläser ist deren Pflege. Dabei gilt es auf mehrere Punkte zu achten. Fällt der Entscheid zugunsten einer Marke oder Linie sollten unbedingt die Einzelkompartimente der Gläserkörbe angepasst werden. Gläser sollten sich beim Waschen nicht berühren. Zudem lohnt sich eine separate Gläserspülmaschine. Obwohl heute alle Weingläser spülmaschinenfest sind, vertragen diese nicht die gleichen Temperaturen wie Porzellan und Besteck. 60 Grad Celsius sind das Maximum. Und die Glasreinigung braucht weniger Chemie. Zu hohe Wassertemperaturen und zu viel Spülmittel können Fremdgeruch bilden und einen milchigen Korrosionsbelag am Glas verursachen, der nicht mehr entfernbar ist. Spezielle Filter entmineralisieren das Spülwasser und Wassertropfen hinterlassen keine Spuren. Werden die Gläser ausgerieben, gilt es die Tücher regelmässig auszuwechseln. Wasser. Glas ist ein absolut geruchsneutrales Material und durch unsachgemässe Behandlung eingebrachte Fehltöne trüben den Weingenuss.

In grossen Kelchen kann sich ein schlanker Wein verlieren. In kleinen Kelchen riechen kräftige Weine häufig alkoholisch.

Von links: Mark Thomas DB, Zieher Vision, Riedel Veritas, Zalto, Spiegelau Willsberger Anniversary, Zwiesel 1872 Air Sense.

Und zum Schluss noch die Frage nach dem Preis: Wieviel sollte man in ein Weinglas investieren?
Die Bandbreite beim Preis für ein Weinglas ist genau gleich weit gefächert wie bei den Formen. Können Sie es sich vorstellen einen 150 Franken teuren Bordeaux aus einem 1.50 Franken billigen «Napoli»-Glas zu geniessen? «Napoli»-Gläser sind die mit dem achteckigen Stiel und dem dicken Sicherheitsrang oben am Kelch. Eher nein. Riedel rät deshalb, dass bei Weingläsern pro Stück gleichviel zu investieren, wie Sie im Durchschnitt für eine Flasche Wein ausgeben.


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Welcher ist der beste Messwein? Frage an Pfarrer Hans Denk, dem Schöpfer der Glaslinie Zalto

Natürlich gibt es keinen besten Messwein, so wie es auch keinen besten Wein gibt, sondern nur guten oder weinger guten Wein. Aber ich kann einem Wesswein – dem leichtesten Grünen Veltliner des Kamptaler Winzers Willi Bündelmayer – attestieren, dass ein katholischer Pfarrer namens Hans Denk ihn zum besten Messwein von allen erklärte und ihn sich in Privatflaschen für seine Gottesdienste abfüllen liess. Denk, 75, ist ein stämmiger Mann, der von ganz oben mit der «Nase Gottes» ausgestattet wurde und deshalb auch weit über die Grenzen Niederösterreichs als «Weinpfarrer» bekannt ist. Seine Fähigkeit, Weinherkünfte nur via Geruchssinn zu deduzieren, ist legendär. Sein barockes Gemüt befühigte ihn sogar dazu, eigene Weingläser zu entwickeln, die inzwischen auf der ganzen Welt in der Spitzengastronomie Verwendung finden. Sie heissen «Denkart», tragen also seinen Namen. Als ich Denk fragte, was ein guter Messwein können muss, antwortete er: «Er muss dich beflügeln, aber nicht zu hoch fliegen lassen. 10,5 Prozent Alkohol sind ideal.» Bründelmayer füllt den Messwein extra für Denk ab. Ich beobachtete den Parrer einmal dabei, wie er vor der Morgenmesse einen halben Liter Bründelmayer-Messwein verzehrte. Er war beflügelt. Aber er flog nicht zu hoch.

(Quelle: Das Magazin 51-52/17/Christian Seiler, Kolumnist)